Verein für Orts- und Heimatkunde Oer-Erkenschwick

Am 05. November 1920 wurde der Verein für Orts- und Heimatkunde gegründet und gilt seit dem als eine Säule kultureller Arbeit im Bereich Oer-Erkenschwicks. Was waren die Triebkräfte, die zur Gründung des Ortsvereins Oer, im Verband der Vereine für Orts- und Heimatkunde im Vest Recklinghausen führten.

von Hans Georg Kollmann (1989)

Ein Blick auf die Situation der Gründungsjahre läßt erkennen, daß dies eine Zeit der Veränderungen und des Umbruchs war. Der Schmelztiegel Ruhrgebiet förderte eine stärkere Durchmischung der Bevölkerung und forderte größere Mobilität von ihr. Althergebrachte, überlieferte - vor allem bäuerliche - Lebensformen gingen verloren. Heimatvereine gründeten sich, als das traditionelle Brauchtum nicht mehr selbstverständlich ausgeübt wurde. So kam es in der Stadt Recklinghausen schon Jahrzehnte vorher zur Gründung des Heimatvereins. In Oer, wo sich bäuerlich-ländliche Lebensweise länger halten konnte, kam es dann nach dem Ersten Weltkrieg zur Vereinsgründung. Die Initiative dazu hatte der 1912 aus dem hessischen Haimbach (bei Fulda) kommende Lehrer Karl Kollmann ergriffen. Er selbst empfand den Heimatverlust tief und zeigte früh Sensibilität für die Notwendigkeit der Traditionspflege angesichts des Schwindens bäuerlichen Kulturgutes. Mit dem Gedanken, den Menschen im Dorf diese Situation bewußt zu machen und mit der Vermittlung der Einsicht, daß das Brauchtum ein wertvoller Besitz sei, waren die Weichen für die künftige Heimatarbeit gestellt. Die Zielsetzung Heimatpflege erwuchs aus einer engen Zusammenarbeit mit dem Gründer des Westfälischen Heimatbundes, Karl Wagenfeld. Karl Kollmann verstand sie so: Erziehung zu Heimatbewußtsein und Heimatliebe durch Heimatgeschichte und Heimaterleben.
In der richtungsweisenden praktischen Arbeitsplanung zeichneten sich vier Schwerpunkte ab: Bewahren von Tradition, Beobachtung von Entwicklungen, Angebote von Informationen, Erwandern und Erfahren des Heimatraumes. Unter diesen Aspekten sollen Arbeit und Bedeutung des Vereins für Orts- und Heimatkunde im Laufe der Jahrzehnte dargestellt werden.

1. Bewahren
Mit einem zunehmenden Industrialisierungsprozeß und mit einer Überfremdung der einheimischen Bevölkerung auch im dörflichen Bereich ging das Schwinden des Brauchtums einher. Der Verein für Orts- und Heimatkunde stellte sich in Verbindung mit der volkskundlichen Kommission des Westfälischen Heimatbundes die Aufgabe, eine Bestandsaufnahme des Brauchtums durchzuführen. Das konnte durch Berichte der Augenzeugen oder auch durch Festhalten der Erzählungen der älteren Generation geschehen. An den sogenannten Lehrabenden trugen die Teilnehmer Sitte und Brauch im Lebenslauf, im Arbeits- und Kirchenjahr zusammen. Zur Ergänzung der theoretischen Ergebnisse sammelte man bäuerliches Gerät und alten Hausrat. Die Sammlungen zeigten das Werkzeug für Saat und Ernte, für die Leinenbearbeitung und das Spinnen. Auch Gesteinsarten aus den geologischen Epochen des Heimatraumes (Karbon, Kreide, Diluvium) fehlten nicht. Leider wurde die Sammlung, einst in der Wohnung des Vereinsleiters untergebracht, durch mehrere Umzüge u.a. in verschiedene Schulen, in ein leerstehendes Fachwerkhaus und in das Amtshaus des ehemaligen Amtes Recklinghausen in Oer stark ruiniert. Auf die interessanten Details der Deelenbalken wies der Verein durch Ausstellen einiger geretteter Holzbalken auf dem Dorfplatz hin.

heimatstube

Tony Kollmann in der alten Heimatstube in Oer

 

Der Heimatverein nahm sich schon früh der Pflege des Volkstanzes an. Der im Jahre 1926 gegründete Volkstanzkreis Oer, der fast 40 Jahre intensiv arbeitete, pflegte alte westfälische und niederdeutsche Tänze. Von den Anfängen unter Leitung von Josef Ridder bis zum Ende der Arbeit in den 60er Jahren umrahmte der Tanzkreis die Veranstaltungen des Heimatvereins, die Aufführungen der Plattdeutschen Bühne Recklinghausen und nahm an zahlreichen internationalen Volkstanztreffen teil. Die Pflege der plattdeutschen Sprache gehörte selbstverständlich zu den Aufgaben des Heimatvereines. An jedem Heimatabend oder Dorftag erlebte man Vorträge in plattdeutscher Sprache oder Theaterstücke der klassischen Mundartdichter wie Wibbelt und Wagenfeld. Wiederholt trug Wilm Böckenholt, der exzellente Rezitator und Interpret, Ernstes und Heiteres in Niederdeutsch vor. Die Lesestube des Vereins bot zahlreiches Buchmaterial an, so daß jedem Interessierten ein umfassender Einblick in die Heimatliteratur geboten werden konnte.

2. Entwicklungen
Bei aller Traditionspflege und neben der Bewahrung alten Kulturgutes hatte der Heimatverein Entwicklungen beobachtet, darauf reagiert und solche initiiert. Von großer Bedeutung und Tragweite war der Einsatz des Vereins für Orts- und Heimatkunde bei der kommunalen Neugliederung im Jahre 1926. Aus dem zum Amt Recklinghausen gehörenden Dorf Oer, der zur Landgemeinde Recklinghausen gehörenden Ortschaft Erkenschwick und Rapen wurde die neue Gemeinde Oer-Erkenschwick. Dem energischen und zähen Einsatz von Karl Kollmann war der Erhalt des Namens OER im neuen Gemeindenamen "Oer-Erkenschwick" zu verdanken. Es zeugt von historischem Denken, daß man den kleineren Ort mit 1000jähriger Geschichte im Gemeindenamen festschrieb. Infolge der neuen Situation hatte man im Jahre 1934 den Heimatverein, der sich als Verein für die Gemeinde Oer-Erkenschwick verstand, entsprechend umbenannt.
Wenn Heimatvereine oft ihre Arbeit auf Heimatgeschichte begrenzten, so setzte der Verein für Orts- und Heimatkunde Oer-Erkenschwick neue Akzente im Verband der Vereine für Orts- und Heimatkunde im Vest Recklinghausen und im Westfälischen Heimatbund. Karl Wagenfeld, der Begründer des Westfälischen Heimatbundes, zu dem Karl Kollmann enge Kontakte und freundschaftliche Beziehungen unterhalten hatte, war ihm Lehrmeister und Wegweiser: "Die Heimatarbeit darf nicht toten und absterbenden Dingen, sondern muß dem lebendigen Menschen dienen. Sie darf nicht rückwärts, sondern muß vorwärts gerichtet sein." (1)

karlkollmann

Gründer Karl Kollmann (1889 - 1966)
Nachruf Karl Kollmann

 

Diese Gedanken griff Karl Kollmann für seine Heimatpflegearbeit auf und entwickelte sie intensiv weiter. Schon im Jahre 1937 stellte der Geschäftsführer des Westfälischen Heimatbundes anläßlich des Tages für Denkmalpflege und Naturschutz die Heimatarbeit in Oer als mustergültiges Arbeitsbeispiel heraus und würdigte die im Sinne Karl Wagenfelds geleistete Arbeit. Karl Kollmann beschritt konsequent den für richtig erkannten Weg der zielbewußten Heimatpflege. Wer auf längere Zeit die neuen Heimatideen in einer dörflichen Gemeinschaft durchsetzen und verankern wollte, konnte, so hatte er richtig erkannt, nicht auf die Schülergeneration und nicht auf die Jugend des Dorfes verzichten. Real hieß das: "Jugendpflege auf heimatlicher Grundlage betreiben." (2) Schließlich verlangte die heimatpädagogische Arbeit den Einschluß auch der Erwachsenen, also die Erwachsenenbildung. In der Praxis bedeutete das in Oer die Gründung der Volkshochschule schon im Jahre 1920. Die Verbindung von Schule, Heimatverein und Volkshochschule, zudem in der Hand einer Person, und damit die Verzahnung der Generationen, die Tatkraft eines befähigten Pädagogen und die Liebe zur Heimat dürften Garanten für eine erfolgreiche Arbeit gewesen sein.
Was an neuen Entwicklungen durch den Heimatverein in Gang gesetzt wurde, mag kurz dargestellt werden; es ging dabei um die Vermittlung von Heimaterleben. Da sind die Dorfabende (gelegentlich wurden sie in Erkenschwick durchgeführt, z.B. 1939 und 1951) und die Dorftage zu nennen. Veranstaltungen zur Förderung des Heimaterlebens durch Musik und Lied, durch Theateraufführungen, auch Freilichtspiele, durch Dichterlesungen in plattdeutscher Sprache und durch die Vorführung alter Bauern- und Volkstänze. Mit Verlosungen von Produkten aus Westfälischen Landen (u.a. Töpferwaren, Brot- und Wurstwaren, Glasgegenstände) und durch Angebot von ausgestellter Heimatliteratur wurde für die Heimat und für gutes Gebrauchsgut geworben. Für eine Altertumsausstellung trugen die Bewohner 300 Objekte aus ihren Häusern zusammen. (3) Für Karl Kollmann sollte das die "Grundlage zum Dorfmuseum" (4) sein.
Wettbewerbe zur Dorfgestaltung unter dem Motto "Unser Dorf soll schöner werden", Blumenschmuckwettbewerbe und Entrümpelungsaktionen im Kampf gegen die Verschandelung des Dorfes durch übertriebene Reklame förderten das Engagement der Dorfbewohner. Der Verein gab einen Haardkalender "zum Zwecke der Liebe und Wertschätzung der Haard, der Lunge des Industriegebietes" (5) heraus. Schon früh setzten die Bemühungen um mehr Grün im Dorf und der Kampf für den Erhalt von Wallhecken und Einzelbäumen in der Landschaft ein.

Die Erwerbslosen am Ende der 20er Jahre bastelten Nistkästen und Futterhäuschen und leisteten schon damals ihren Beitrag für den Naturschutz. Das Bewußtsein, eine "Dorffamilie" (5) zu sein und "die Pflege des Dorflebens" (5) sollten der erleuchtete Weihnachtsbaum auf dem Dorfplatz, Konzerte im Freien zur Weihnachtszeit und regelmäßige Dorfkonzerte im Sommer (6) fördern. Adventsbrauchtum (Kranz mit Kerzen und Adventsspiele) wurde über die Schule und den Verein ins Dorf hineingebracht. Krippenausstellungen dienten der Pflege religiösen Brauchtums, aber nach dem Bericht des Heimatvereins von 1931 stand hierbei auch die Idee Pate, den Arbeitslosen in ihrer schwierigen Lage "eine kleine Ablenkung" (7) zu verschaffen. Mit der wirtschaftlichen Notlage wurde die Durchführung der Spielzeugbastelkurse für jugendliche Erwerbslose begründet. Die handgefertigten Arbeiten zeigten sie in einer Spielzeugausstellung (1931). Nach dem Zweiten Weltkrieg bastelten Jugendliche und Schüler Weihnachtsgeschenke für die Kinder der Ostvertriebenen. Nach der Stillegung der heimatlichen Schachtanlage Ewald Fortsetzung (1929) machte der Heimatverein Vortragsangebote vor allem für die erwerbslose Bevölkerung. Mehr als 100 Personen nahmen an jedem der "Unterhaltungsabende" (7) in einem Klassenraum der Oerer Schule teil, an denen mit Lichtbildervorträgen Wissen vermittelt und gemeinsam Gelesenes diskutiert wurde. 
Die Federführung zur Gründung eines "Notwerkes für die (erwerbslose) Jugend" (8) im Jahre 1931 lag in Verbindung mit dem Junggesellenverein und der DJK (Deutsche Jugendkraft) in den Händen des Vereins für Orts- und Heimatkunde. Jung und alt erlebten erstmalig in Oer in Verbindung mit der traditionellen Bartholomäus-Kirmes (24.08.) das künstlerische Kasperlespiel mit Handpuppen und bedeutende Aufführungen bekannter Marionettenbühnen. Zur Verbreitung der Idee der Heimatarbeit als Dienst am Menschen leistete der Vorsitzende viel. Durch eine umfangreiche Vortragstätigkeit vor Jugendlichen und Erwachsenen in der Jugendherberge Oer, durch Vorträge innerhalb der Lehrerfortbildung in den Nachbarstädten und schließlich durch die Darstellung der Idee "Heimatkunde und Heimatpflege in Schule und Dorf" (9) an der Pädagogischen Hochschule Dortmund erfuhr das Gedankengut der Heimatpflege weite und gründliche Verbreitung.
Der Verein für Orts- und Heimatkunde zeigte wiederholt Bereitschaft, neue Gegebenheiten in seine Arbeit einzubeziehen. Im Zweiten Weltkrieg knüpfte er zu allen, die durch den Kriegsdienst aus dem Dorfverband herausgezogen waren, mit Briefen aus der Heimat Kontakte. Große Verdienste um die regelmäßig wiederkehrenden Briefaktionen in "Oerschem Platt" hat sich das Vorstandsmitglied Joseph Vagedes erworben. Zahlreiche schriftliche Rückmeldungen zeugten von der Wichtigkeit und Beliebtheit der Heimatbriefe. Die Chronistentätigkeit wurde auch im Zweiten Weltkrieg mit der Registrierung aller besonderen Ereignisse und der Flugangriffe auf Oer fortgesetzt. Diese "Kriegschronik" liegt heute im Heimatarchiv der Stadt Oer-Erkenschwick.

3. Information
Der Heimatverein ging schon früh von der Erkenntnis aus, daß Informationen über die Heimat und deren Verbreitung wichtige Bestandteile der Arbeit sein müssen. So drang man in die Tiefen der Vergangenheit ein, wurde fündig und hob die Ereignisse früherer Zeiten ins Bewußtsein der Bevölkerung. Zwei Umstände kamen dem Vorhaben entgegen: das Vorhandensein einer Chronik des schreibfreudigen Pfarrers von Oer JOHAN JACOBUS SCHMITZ (1760 - 1796) und die Existenz einer Burg der Familie VON OER.
Durch die Chronik konnte die Bevölkerung in Veröffentlichungen über die Belastungen im 7jährigen Krieg, über Brände im Dorf (1936 wurde am 28.7. der Brandtag von 1776 feierlich begangen) und über die Probleme der gemeinsamen Haardnutzung erfahren. Intensiver beschäftigten sich die Teilnehmer an den Lehrabenden, die über Jahrzehnte hindurch mehrere Monate im Winterhalbjahr stattfanden, mit der Geschichte ihres Dorfes.
U.a. lernten sie die Bestandsaufnahme der Bevölkerung von Oer, Alt-Oer, Siepen, Sinsen, Essel, Erkenschwick und Rapen aus dem Jahre 1761 kennen. An den Lehrabenden beschäftigte man sich seit 1935 mit Ergebnissen der Dissertation von Joseph Menke über "Die Geschichte des Reichshofes Oer von seinen Anfängen bis zur Bauernbefreiung" (10) und mit den Arbeiten von Dr. Pennings über die Familie von Oer (Vortrag 1925 in Oer). Seit den 50er Jahren leistete man vorwiegend volkskundliche Arbeit und unterstützte die Vorhaben der Volkskundlichen Kommission des Westfälischen Heimatbundes. Mit Hilfe der damals 70- und 80jährigen konnte die Situation des Kirchspiels Oer vor dem Einzug der Industrie (11) erarbeitet und mit Bildmaterial belegt werden. Dem zähen Einsatz des Vereinsvorsitzenden war es zu verdanken, daß das Wissen um die Herren von Oer nicht nur theoretisches blieb, sondern durch Ausgrabungstätigkeit praktisch bestätigt werden konnte. Nach einem ersten Ausgrabungsversuch in den 20er Jahren in den Wiesen des Bauern Schulte-Oer südlich des Kaninchenberges stieß Karl Brandt, Museumsdirektor in Herne, im Jahre 1964 auf die Fundamente der Burg Oer und auf Gräftenaufschüttungen. (12)

Die aus finanziellen Gründen begrenzte Probegrabung (eine letzte erfolgte 1984) belegte die Existenz einer frühen Burg wohl aus dem 12ten Jahrhundert und eine Burg aus der Zeit um 1500, wie Brandschichten mit Ziegelresten zeigten.
Das vielfältige Informationsangebot berücksichtigte die Geologie, da Erdaufbau und Boden Existenzgrundlagen für den Bergmann und den Bauern darstellen; andere Themen behandelten philosophische, biologische, rechtliche und volkswirtschaftliche Fragestellungen. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, läßt sich das Angebot an Themen in einen Spannungsbogen zwischen Tradition und Fortschritt, zwischen Heimat und Welt, zwischen nah und fern und schließlich zwischen Historie und aktueller Problematik einordnen.

4. Fahrten und Wanderungen
Mit der Gründung der Gemeinde Oer-Erkenschwick im Jahre 1926 lag der Gedanke nah, daß die Bürger den neuen Grenzverlauf der Gemeinde kennenlernen sollten. Der Heimatverein übernahm den mittelalterlichen Brauch der Schnadgänge (Grenzgänge) aus Brilon und praktizierte ihn zum ersten Mal im Jahre 1926. Musik und ein Reiterzug begleiteten die 100 Teilnehmer auf ihrem Grenzgang. An gemeinsamen Grenzverläufen pflegte man gute Nachbarschaft. Den Abschluß bildete der gemeinsame Umtrunk, der sog. Grenztrunk.

Seitdem hat man die Schnadgänge regelmäßig durchgeführt, aber jeweils in einem Jahr nur ein Viertel der Grenze abgeschritten. Genau in das Ideenkonzept des Heimatvereines paßten die Burgenfahrten, die seit den 20er Jahren durchgeführt wurden. Durch die historisch orientierten Fahrten ließ sich der Interessenhorizont über das Dorf hinaus erweitern. In der Nähe besuchte man u.a. die Anlagen von Haus Niering, Schloß Herten, Schloß Westerholt, Haus Bladenhorst und Haus Beck, von dem erweiterten Zielangebot seien nur Burg Vischering, Schloß Cappenberg, Schloß Nordkirchen und Schloß Gemen für viele genannt. Eine besondere Erwähnung verdiente der Besuch des Hauses Egelborg bei Legden, weil man mit der Fahrt zum heutigen Sitz des Freiherrn von Oer Historisches in Erinnerung bringen konnte.
Der Verein für Orts- und Heimatkunde Oer-Erkenschwick - heute. Es erhebt sich nach 70 Jahren die Frage, wie weit hat die Schubkraft, die Karl Kollmann und seine treuen, unermüdlichen Mitarbeiter dem Verein für Orts- und Heimatkunde mit auf den Weg gegeben haben, gereicht? Wenn auch mancher mit dem Abtreten der Gründergeneration (Karl Kollmann starb am 4.12.1966) glaubte, das Werk werde langsam in Bedeutungslosigkeit und Passivität versinken, so sieht die Realität doch anders aus. Gewiß bleibt eine Jahrzehnte währende Kulturarbeit nicht von Verschleißerscheinungen verschont, und manches kann in einer veänderten Situation keinen Bestand und keinen Sinn mehr haben. Doch nach 70 Jahren heimatpflegerischer Arbeit in Oer-Erkenschwick, da man sich anschickt, des 100. Geburtstages von Karl Kollmann zu gedenken, zeigt sich, was an Ideen und Wirkkraft in die Zukunft hineingeflossen ist.
Die Schnadgänge werden wie eh und je durchgeführt und erfreuen sich wie die Burgenfahrten größter Beliebtheit. Die Grenzgänge erfüllen heute den aktuellen Anspruch von Natur- und Gemeinschaftserlebnis. Die Burgenfahrten steuern öfter Ziele über die Grenzen Westfalens hinaus an. Sie haben nichts an sinnvoller Zielsetzung und Dynamik eingebüßt, wenn z.B. mit der Fahrt in einen Braunkohlentagebau aktuelle Probleme der Energiegewinnung, der Umsiedlung von Menschen und der Rekultivierung der Landschaft erlebt und diskutiert werden. Die Krippenausstellungen gehören zu den beliebten Veranstaltungen. Wenn auch Krippenstall und Figuren wenig Veränderung aufweisen, so liegen im wechselnden Teilnehmerkreis unter Mitwirkung von Kindergarten und Schule Impulssetzungen.

Die Dorfabende, einst Höhepunkte der Jahresarbeit, pflegen weiterhin in besonderem Maße die plattdeutsche Dichtung und Sprache. Der letzte Dorftag im Jahre 1986 glänzte durch seine Volksfestatmossphäre, die durch das selbstlose Mitwirken vieler und durch die Vorführungen bäuerlicher und handwerklicher Tätigkeiten hervorgerufen werden konnte.
Auf den Spuren Oerer Geschichte geht man weiter. Einige Mitglieder des Vereins arbeiten an der Vervollständigung des Geschichtsbildes. Als ein Ergebnis des historischen Bewußtseins ist die Planung eines "Heimatkundlichen Lehrpfades" anzusehen, auf dem u.a. der Gerichtsstein auf dem Hof Schulte-Oer, die Oerer Kirche (Turm gez. 1687), die Burg Oer, der Römerbrunnen und das St.Johannes-Standbild in der Haard aufgesucht werden. Die Idee des Vereinsmitgliedes Otto Corzillius ist ein richtiger, zukunftsweisender Schritt. Die Dorfbildpflege und Gestaltung des Dorfplatzes gehören zu den aktuellen Aufgaben eines Heimatvereines. Er hält durch Setzen eines Gedenksteines und die Benennung einer Straße an der Oerer Kirche die Erinnerung an den Pfarrer Johan Jacobus Schmitz wach. Für Senioren findet alljährlich eine Zusammenkunft statt mit Bewirtung, Hinweisen zur Vereinsarbeit und mit jeweils einem Lichtbildervortrag.
Wenn auch der Verein für Orts- und Heimatkunde Oer-Erkenschwick vorwiegend aus dem dörflichen Stadtteil Oer heraus arbeitete, so zeigt die Zusammensetzung der Mitglieder eine Tendenz zur Integration von Oer und Erkenschwick. Die Zukunft des Vereins für Orts- und Heimatkunde sollte mehr mit der Entwicklung der Stadt Oer-Erkenschwick einhergehen. 


 

 



Anmerkungen
1. Wagenfeld, Karl: Dienst am lebendigen Menschen, in: Münsterischer Anzeiger vom 1.9.1937, Münster 1937
2. Kollmann, Karl: Jahresbericht Ortsverein Oer, in: Vestische Zeitschrift (VZ), Bd. 33, Recklinghausen 1926, S. 235
3. Kollmann, Karl: Jahresbericht Ortsverein Oer, in: VZ, Bd. 34, Recklinghausen 1927, S. 431
4. Kollmann, Karl: Zum 10jährigen Bestehen des Vereins für Orts- und Heimatkunde Oer, in: VZ, Bd. 38, Recklinghausen 1931, S. 34
5. Kollmann, Karl: Jahresbericht Ortsverein Oer, in: VZ, Bd. 33, Recklinghausen 1926, S. 234
6. Kollmann, Karl: Jahresberichte Ortsverein Oer, in: VZ, Bd. 34, Recklinghausen 1927, S. 411 und VZ, Bd. 36, Recklinghausen 1929, S. 237
7. Kollmann, Karl: Jahresbericht Ortsverein Oer, in: VZ, Bd. 39, Recklinghausen 1932, S. 182 
8. Originalhandzettel im Besitz des Verfassers, 1931
9. Kollmann, Karl: Jahresbericht Ortsverein Oer, in: VZ, Bd. 51, Recklinghausen 1949, S. 155
10. Menke, Joseph: Die Geschichte des Reichshofes Oer von seinen Anfängen bis zur Bauernbefreiung, in: VZ, Bd. 43, Recklinghausen 1936
11. vgl. Kollmann, Hans Georg: Brauchtum im Kirchspiel Oer, in: VZ, Bd. 60, Recklinghausen 1958, S. 69ff und in: VZ, Bd. 61, Recklinghausen 1959, S. 25ff und in: VZ, Bd. 62, Recklinghausen 1960, S. 21ff
12. vgl. Brandt, Karl: Erdburg Oer - Grabungsgeschichte, Herne 1964 (unveröffentlichtes Manuskript; im Besitz des Verfassers) 

Literaturliste
1. Vestische Zeitschrift (VZ), Bd. 33, Recklinghausen 1926
2. VZ, Bd. 34, Recklinghausen 1927
3. VZ, Bd. 36, Recklinghausen 1929
4. VZ, Bd. 38, Recklinghausen 1931
5. VZ, Bd. 39, Recklinghausen 1932
6. VZ, Bd. 43, Recklinghausen 1936
7. VZ, Bd. 51, Recklinghausen 1949
8. VZ, Bd. 60, 61 u. 62, Recklinghausen 1958, 1959 u. 1960

Der Artikel wurde der "Chronik der Stadt Oer-Erkenschwick" entnommen. Er enthält gegenüber dem Original zuätzlich hinzugefügte Bilder.